
„Mit dem Liegerad durch Weißrussland“
Mit dem Liegerad von Neuenhaus nach Gomel (Weißrussland) in drei Etappen – 1.817 Kilometer mit Regen, Hitze und purem Radabenteuer.
Weißrussland oder Belarus mit dem Fahrrad zu durchqueren – das war schon vor Jahren kein Vorhaben für Kurzentschlossene. Wer damals in die letzte Diktatur Europas reisen wollte, benötigte Hilfestellung bei der Einreise, Geduld, gute Nerven und Akzeptanz für bürokratische Abläufe. Kein Visum „on arrival“, keine spontane Einreise – stattdessen Formulare, Botschaftsbesuche und die diffuse Frage: Was erwartet mich da eigentlich?
Trotz aller Vorbehalte habe ich es gewagt. Mit meinem Liegerad und einer gehörigen Portion Neugier habe ich damals diese besondere Grenze übertreten – in ein Land, das so fremd wie faszinierend war. Politisch abgeschottet, wirtschaftlich schwer einzuschätzen, kulturell kaum greifbar. Und doch war es genau diese Mischung aus Unsicherheit, Neugierde und Abenteuerlust, die mich antrieb.
Heute, mit Blick auf die politische Lage, wäre eine solche Tour undenkbar. Die Spannungen haben sich verschärft, das Land ist isolierter denn je. Es ist ein bedrückendes Gefühl, wenn ein Reiseziel, das man einst mit eigenen Augen gesehen hat, plötzlich unerreichbar wird. Nicht, weil es geografisch zu weit entfernt wäre – sondern weil aus Grenzen und politischen Realitäten wieder Mauern geworden sind.
Umso wertvoller erscheint mir im Rückblick diese Reise. Denn was mich am meisten berührt hat, waren nicht die Schlagzeilen oder Klischees – sondern die Menschen. Herzlich, hilfsbereit und eben anders. Die Begegnungen auf der Straße und in den Familien, die Nähe und die Auswirkungen zu dem in unmittelbarer Nähe geschehenen Tschernobyl-Unglück, das vollkommen andere politische System, die sprachliche Unsicherheit – sie widersprachen jedem Bild, das ich mir von diesem Land gemacht hatte.
Vielleicht macht gerade das diesen Reisebericht besonders. Weil er ein Stück Realität zeigt, das man heute kaum noch erleben kann. Weil er die Kluft zwischen Regimen und Menschen spürbar macht. Und weil er – trotz aller Schwierigkeiten – von einer besonderen und außergewöhnlichen Radtour erzählt.
Freiheit auf zwei Rädern, mit Rückenwind und offenen Augen.
Und genau darum geht’s jetzt – in meinem Bericht in dem Buch „Die außergewöhnlichen Radtouren eines Bürokraten“. Ein Kapitel über endlose Landstraßen, unberührte Natur und überraschende Herzlichkeit. Über eine Tour durch ein Land, das mir fremd war – und am Ende ganz nah kam.
Der Start in den späten Märztagen in Neuenhaus war alles andere als vielversprechend: Morgens um 08:00 Uhr nur 7 Grad, strömender Regen, nasse Klamotten und mein Hintern lag im „Liegesitz-Schwimmbecken“ – so begann meine große Radtour, die mich in mehreren Etappen bis durch Weißrussland führen sollte. Medien waren informiert und wollten von unterwegs berichten, Sponsoren hatten für diese Reise Geld für die „Tschernobyl-Aktion“ gespendet, aber das Wetter war gnadenlos.

Trotz Dauerregen zog ich durch: von der Grafschaft Bentheim über Fürstenau, Hannover und Wunstorf bis nach Berlin – 500 km in zwei Tagen. Der Lohn? Eine heiße Dusche, trockene Kleidung und das überragende Gefühl: Ich bin gestartet und ich hab’ die erste Etappe von der Grafschaft Bentheim nach Berlin geschafft!
Wenige Monate später führte mich die zweite Etappe von Berlin durch Polen bis an die weißrussische Grenze und zurück nach Warschau. Fünf Tage über 30 Grad – und noch nie in meinem Leben so viel Wasser getrunken wie in diesen Tagen. Polen zeigte sich von seiner ungeschminkten Seite: wunderschöne Landschaften, Alleen, Wälder – aber auch Straßen, auf denen ich meinen Rückspiegel öfter nutzen musste als je bisher. Zwischen „Sprintern, Boxern und Schmitz-Aufliegern“ zu fahren, war nicht ganz ohne – aber hey, dafür ist der Rückspiegel beim Liegerad unverzichtbarer Standard.

Abenteuer Bahnreise: Von Nordhorn an die Grenze zu Weißrussland
Start der letzten Etappe war Brest, direkt an der Grenze zu Weißrussland – nach einer Bahnfahrt, die eher einer Schnitzeljagd mit Hindernissen glich: Tickets, die plötzlich nicht mehr ausreichten, kryptische Fahrkartenschalter und ein Wechselkurs, bei dem ich plötzlich 100 000 Rubel in der Hand hielt und dachte, ich hätte eine Zentralbank überfallen. Für den Grenzübertritt mit der Bahn benötigte ich mehrere Stunden durch „sonderbare“ Grenzkontrollen.
Aber: Ich kam an. Und wie! In Brest ging’s los, quer durch Weißrussland auf der M10 – ein Mittelding zwischen Dorfstraße und Autobahn. Jeden Morgen wurde ich von Andrej, meinem lokalen Helfer, mit einem Pritschenwagen an die Strecke gebracht – und abends wieder eingesammelt. Ich kam mir vor wie ein Tour-de-France-Fahrer. Nur ohne Teamwagen, dafür aber mit Schlagloch-Garantie.

Gastfreundschaft, Grenzerfahrungen und gute Geister
Ich schlief in Hotels mit drei Preisklassen – für Einheimische (6 €), für Gäste aus sozialistischen Bruderstaaten (10 €) und … mich für 60 €. Mal gab’s heißes Wasser, mal musste es auch ohne gehen. Und immer wieder: Begegnungen, die hängen bleiben. Die Familie der Übersetzerin Natascha, der Besuch einer Schule, wo ich „Viele Grüße aus Neuenhaus“ an die Tafel schrieb – in einem Klassenzimmer, in dem Deutsch unterrichtet wurde, das heftig nach frischer (lindgrüner) Farbe roch. Und dann: die Großstadt Gomel.
Ziel erreicht: 1817 Kilometer, 10 Tage reine Fahrtzeit
Die letzten Kilometer waren hart. Schlaglöcher, Steinschlag, ein wilder Empfang mit Fotos vor einem sowjetischen Monument – und dann war ich da. In Gomel – angekommen!

Aber mit der Ankunft kam auch das Nachdenken. Über das, was ich gesehen hatte. Über den Besuch in einem Projekt für Jugendliche mit Behinderung, denen man mit einfachsten Mitteln das Leben schöner machen konnte. Über Einrichtungen, in denen eine „Pampers“ für vier Tage ausreichen musste – laut Verordnung eines weißrussischen Ministeriums. Gegensätze, die größer nicht sein könnten. Und über das große Glück, nicht in Weißrussland geboren zu sein, sondern in Deutschland!
Rückblick mit Stolz und Wehmut
Es war mehr als eine Tour. Es war eine Erfahrung, die bleibt. Zwischen Schlagloch und Sonnenaufgang, zwischen Wodka und Wassermangel, zwischen Gastfreundschaft und unverständlichen Grenzformalitäten.
Wer mehr wissen will: In meinem Buch „Die außergewöhnlichen Radtouren eines Bürokraten“ habe ich eine ausführliche Beschreibung, Gedanken und Etappenberichte dokumentiert.
Diese Tour war kein Wellnessurlaub. Aber sie war echt, intensiv, fordernd – und ein Beweis, dass man mit Ausdauer, Humor und einem gut durchlüfteten Hintern ziemlich weit kommt.
„Ich fahre nicht Rad, um mein Leben um Tage zu ergänzen. Ich fahre Rad, um meine Tage mit Leben zu ergänzen.“ (Unbekannt)